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Der Professor, der sich immer wieder neu verliebte

 

Es war ein sonniger Aprilmorgen, als ich wie üblich um 8.30 Uhr in meine Praxis kam und mich auf meinen Arbeitstag freute. An jenem Morgen fand ich ein FAX, es war aus Amerika und an mich adressiert. Ich dachte zunächst, es sei ein Versehen, denn ein FAX aus Amerika? Doch es war ja mein Name darauf mit einem Brief, der der Beginn einer außergewöhnlichen Zeit war:

„Sehr geehrte Frau Stolle, wir kennen uns noch nicht. Ich würde gerne in Ihrer Praxis vorstellig werden. Ich bin Professor für Sprachwissenschaften und Psychologie mit wissenschaftlichem Institut. Ich bin zwar schon 70 Jahre alt, aber es gibt keinen, der so gut ist wie ich. Deshalb arbeite ich weiter. Gerne bringe ich Ihnen eines meiner Bücher mit zu unserem ersten Termin. Wenn unsere Zusammenarbeit gut klappt, wird auch meine Frau Patientin bei Ihnen. Sie hat psychische Probleme. Im Moment sind wir in Amerika zu Besuch bei unserer Tochter, unser jüdischer Enkelsohn heiratet. Sein jüdischer Vater – meine Tochter ist mittlerweile geschieden – richtet eine traditionelle Hochzeit aus. In fünf Tagen kommen wir zurück nach Deutschland und so würde ich gerne in sechs Tagen, nächste Woche Dienstag um 7.15 Uhr zu Ihnen kommen. Das passt mir am besten. Ich denke wir brauchen maximal 1,5 Stunden. So sind wir um 8.45 Uhr fertig und ich bekomme um 9.00 Uhr den Zug nach Köln. Meine Vorlesung beginnt um 11.00 Uhr. Wie ich von einer Studentin gehört habe, kommt Ihr erster Patient um 9.00 Uhr. Dann sind wir ja fertig. Bitte bestätigen Sie mir den Termin per FAX. Die Nummer sehen Sie ja. Ich habe ein Glaukom (grüner Star). Das muss weggehen! Die Ärzte schaffen das nicht. Bei Recherchen habe ich ermittelt, dass die chinesische Kräutermedizin da wahre Wunder vollbringen kann. Also strengen Sie sich an!“

Ich musste schon tief Luft holen und dachte nur, bei so einem Mann muss die Frau ja psychisch krank werden. Ob ich so jemanden behandeln möchte? Vielleicht sollte ich einfach mit passenden „Spielregeln“ reagieren? Noch bevor der erste Patient kam, schrieb ich dem eigenartigen Professor eine Antwort.

„Sehr geehrter Herr Professor, gerne strenge ich mich für Sie an, um Ihr gesundheitliches Problem zu lindern oder zu beheben. Doch morgens um 7.45 Uhr sitze ich noch mit meinem Mann am Frühstückstisch. Danach gehe ich mit dem Hund. Ab 8.30 Uhr bin ich in der Praxis. Um 9.00 Uhr kommt der erste Patient. Donnerstags behandle ich auch in der Mittagszeit. Gerne mache ich für Sie eine Ausnahme. Sie können in 14 Tagen am Donnerstag um 12.45 Uhr hier vorstellig werden. Ich kann für Sie 1,5 Stunden zur Verfügung stellen. Dann sind wir um 14.15 Uhr fertig. Generell vergebe ich immer Termine zur halben oder zur vollen Stunde. So habe ich in diesem Fall dann 15 Minuten Pause, um mich von Ihnen zu erholen, bis der Nächste kommt. Bitte geben Sie Bescheid, ob Sie an diesem Tag kommen möchten. Ansonsten vergebe ich den Termin anderweitig.“

Ich schickte das FAX ab, hoffte, dass das Thema damit erledigt war und wendete mich dem ersten Patienten zu. Nicht einmal eine halbe Stunde später kam ein FAX zurück.

„Sehr geehrte Frau Stolle, ich nehme den Termin. Ich werde pünktlich sein. Die 15 Minuten Pause können Sie streichen. Diese Zeit nutzen Sie bitte, um die Kräuterrezeptur für mich zu erstellen. Nachmittags kann eine Mitarbeiterin die Kräuter bei der Apotheke abholen. Ich will keine Zeit verlieren. Dann kann ich abends schon die Kräutermedizin zu mir nehmen.“

Nun kam dieser Patient also doch. Natürlich war ich gespannt, was da auf mich zukam. An dem besagten Donnerstag betrat auf die vereinbarte Sekunde genau ein stattlicher charismatischer Mann voller Energie meine Praxis zu einem unvergessenen Erstgespräch.

Durch Zungen- und Pulsdiagnose sowie ausführliche Fragen versuchte ich das Problem seiner Augen zu erfassen, um eine effektive Behandlung mit Akupunktur und Kräutermedizin zusammenzustellen. Die chinesische Medizin hat beim Glaukom in der Tat bereits bemerkenswerte Erfolge erzielt. Je mehr man im Anamnesegespräch erfasst, desto genauer kann man die Kräuterrezeptur ausarbeiten.

So nebenbei fragte ich ihn nach einem Hobby.

„Ja, sicher habe ich ein Hobby. Ich verliebe mich immer wieder in junge Studentinnen“, sagte er und lachte mich an. Ich schaute ihn fassungslos an.

„Sie sind doch verheiratet!“ entgegnete ich gleichermaßen fragend und staunend und wusste nicht, ob ich entrüstet sein sollte.

„Es ist nicht so, wie Sie denken“, erklärte er, „ich verliebe mich doch nur, weiter nichts. Dadurch behalte ich die hohe Energie und mein Alltag ist freudvoll und dynamisch. Die Studentinnen führe ich so bis zum Abschluss einer sehr guten Doktorarbeit und meine Frau hat auch etwas davon. Wir sind schließlich schon über 40 Jahre verheiratet. Ich liebe meine Frau, aber diese Spannung, die Euphorie, diese Dynamik, die spürt man nur, wenn man verliebt ist. Alle paar Jahre verliebe ich mich neu. Es geht nicht um Sexualität. Ich verliebe mich nur und so bleibt auch unsere Ehe energiegeladen und freudvoll.“

An diesem Tag begann eine langjährige, spannende Zusammenarbeit. Er brachte im Laufe der Zeit auch seine Frau mit, eine sympathische, unscheinbare Person. Sie konnte ihren Mann aushalten, weil sie ihn liebte. Beiden konnte ich gesundheitlich helfen. Das Glaukom stabilisierte sich. Der Augendruck lag nach einer Weile meistens im Normbereich. Wenn nicht, dann lag es daran, dass es bei ihm zu stressig war und er sich zu viel zumutete. Vorlesungen geben, Institut leiten, Bücher schreiben, ja, und Probleme mit der „Verliebtheitsstudentin“ – das war schon recht viel. Dennoch – dieser Mann war beeindruckend. Und je mehr unser Vertrauen wuchs, desto mehr offenbarte er von sich. Dies bedeutete im Ergebnis, dass er nicht nur eine erfolgreiche Behandlung erhalten konnte, sondern auch ich konnte sehr viel von ihm lernen. Und es war nie langweilig.

Noch vor seinem 80. Geburtstag sind er und seine Frau dann umgesiedelt nach Amerika in die Nähe der Tochter. Seine Frau war sehr glücklich darüber. Endlich hatte sie ihren Mann für sich alleine, ohne Studentinnen und Verlieben. In meinem Alltag denke ich zwischendurch immer mal wieder an den Professor, der sich immer wieder verliebte, und an seine Frau. Dann hoffe ich jedes Mal, dass ihr Wunsch in Erfüllung gegangen ist und sie in eine glückliche neue Zeit ausgewandert sind.